Advent

Kurz vorm Advent … den Geschmack von Winter und Bittermandel auf der Zunge

26. November 2010

Ich habe schon Jahre keine mehr gesehen und fühle mich ihnen trotzdem jetzt gerade sehr verwandt: den Igeln. Die sich unterm schönsten gefundenen Laubhaufen zusammen kugeln, vorsichtig an den anderen heran rollen und einmal tief seufzen. Geschafft – eingeigelt für den Winter. Komme ich doch noch hin und wieder aus meinem Dorfhaufen raus in die Stadt, sind Fenster, Gärten, Straßenzüge über Nacht mit Lichtern geschmückt. Na huch. Ja es ist wirklich schon soweit, Lebkuchen und Tannenparadiese (Was genau soll das sein, ein Tannenparadies?) hatten Recht.
Es wird wieder Zeit für eine Gebrauchsanweisung zum Advent … eine neue! Jeden Tag ein Stückchen. Damit der Advent ganz langsam vergeht, wie ein Stück Bitterschokolade nur schwer auf der Zunge schmilzt. Und vielleicht finde ich dieses Jahr doch einen Weihnachtsmarkt, der es schafft, die Zeit um zwanzig Jahre zurückzudrehen und dann klebt mir die Zuckerwatte in den Haaren und ich fühle mich eine Stunde lang wie zehn, zu warm angezogen und mit einem Leben vor mir?!
Für heute ein Gedicht von Joachim Ringelnatz, das mich über die Jahre immer mal wieder kalt erwischt. Muschelkalk. Schwer zu glauben, dass Ringelnatz schon so lange tot ist. Und wie rau sein Leben war. Und dass er gar nicht weit von mir begraben ist!
Ich habe lange kein Gedicht mehr mit der Hand abgeschrieben. Einfach so, auf ein Papier. Damit beginne ich den Advent.

Ansprache eines Fremden an eine Geschminkte vor dem Wilberforcemonument

Guten Abend, schöne Unbekannte! Es ist nachts halb zehn.
Würden Sie liebenswürdigerweise mit mir schlafen gehn?
Wer ich bin? – Sie meinen, wie ich heiße?

Liebes Kind, ich werde Sie belügen,
Denn ich schenke dir drei Pfund.
Denn ich küsse niemals auf den Mund.

Von uns beiden bin ich der Gescheitre.
Doch du darfst mich um drei weitre
Pfund betrügen.

Glaube mir, liebes Kind:
Wenn man einmal in Sansibar
Und in Tirol und im Gefängnis und in Kalkutta war,
Dann merkt man erst, daß man nicht weiß, wie sonderbar
Die Menschen sind.

Deine Ehre, zum Beispiel, ist nicht dasselbe
Wie bei Peter dem Großen L’honneur. –
Übrigens war ich – (Schenk mir das gelbe
Band!) – in Altona an der Elbe
Schaufensterdekorateur. –

Hast du das Tuten gehört?
Das ist Wilson Line.

Wie? Ich sei angetrunken? O nein, nein! Nein!
Ich bin völlig besoffen und hundsgefährlich geistesgestört.
Aber sechs Pfund sind immer ein Risiko wert.
Wie du mißtrauisch neben mir gehst!

Wart nur, ich erzähle dir schnurrige Sachen.
Ich weiß: Du wirst lachen.
Ich weiß: Daß sie dich auch traurig machen.
Obwohl du sie gar nicht verstehst.

Und auch ich –
Du wirst mir vertrauen, – später, in Hose und Hemd.
Mädchen wie du haben mir immer vertraut.

Ich bin etwas schief ins Leben gebaut.
Wo mir alles rätselvoll ist und fremd,
Da wohnt meine Mutter. – Quatsch! Ich bitte dich: Sei recht laut!

Ich bin eine alte Kommode.
Oft mit Tinte oder Rotwein begossen;
Manchmal mit Fußtritten geschlossen.
Der wird kichern, der nach meinem Tode
Mein Geheimfach entdeckt. –
Ach Kind, wenn du ahntest, wie Kunitzburger Eierkuchen schmeckt!

Das ist nun kein richtiger Scherz.
Ich bin auch nicht richtig froh.
Ich habe auch kein richtiges Herz.

Ich bin nur ein kleiner, unanständiger Schalk.
Mein richtiges Herz. Das ist anderwärts, irgendwo
Im Muschelkalk.

JOACHIM RINGELNATZ (1883-1934)

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