Zuhause hörten wir Liedermacherlieder. Das war unser musikalischer Treffpunkt, auch dann noch, als die restlichen Vorlieben entfernter nicht hätten sein können. (Stefanie Hertel + Massive Attac, Güttler + Bon Jovi)
Irgendwann auf einem Laternenkonzert in Schwerin, wohl 100 Jahre her, hatte ich eine Wenzel CD erstanden; Wenzel singt Theodor Kramer. Jahre später, als wir alle in Berlin gestrandet waren, pflegten Ela und ich die Tradition der Wenzelkonzerte. Das waren so einige, Wenzel ist Berliner. Neulich dachte ich, ach wer weiß, wie lange das noch geht, und suchte das nächst schönste Konzert heraus. In der Volksbühne und solo, wie angenehm! Und dann auch noch im Wechselspiel mit Texten von Christoph Hein, den ich zwar nie gelesen hatte, aber selbst wenns uns nicht das Gelbe vom Ei würde, Wenzel riss es schon raus. (Ach es hätte dottergelber nicht sein können!)
Ela und ich saßen also gespannt im ausverkauften Volksbühnensaal – und alle anderen herum waren so feierlich und duften auffallend gut. Noch ein paar Minuten Zeit, ich schaute doch lieber im Lexikon nach, was Christoph Hein so schrieb … Immerhin noch fünf Minuten bevor die Lichter ausgingen und Wenzel mit Akkordeon durch den blauen Samthimmelvorhang schritt, ging mir ein Kerzenlichtlein an: Christoph Hein hatte ja am 8. April, also heute! Geburtstag. Und Wenzel im Anzug und ohne Schminkeweiß?! Wer macht denn an seinem Geburtstag eine Lesung, dachte ich noch –
und dann war ich auch schon restlos verzaubert, hingerissen, ganz im Bann von diesem bewegten, schillernden, demütigen, weisen Schriftsteller. Was er schrieb, wie er las, wie seine Wesenszüge Bände sprachen! Wie er da stand, Wenzel neben ihm ein Riese; wie er die Banner entrollte, so elegant, wie seine Augen funkelten, wie das nur einem inne ist, der Wahrheit spricht. Und alles erlebt hat.
Und nun vielen mir die Schuppen endlich von den Augen – all die feinen, duftenden Herrschaften, das waren seine Freunde, die hier zusammen mit Christoph Hein seinen 75. Geburtstag feierten! Wenzel – ein alter Freund, der an diesem Abend für ihn Lieder spielte, die zu Heins Texten passten, wie ein leiser Dialog, ohne Zeit und Raum. Und hier saßen wir, Ela und ich, ohne taftene Kleider und Festfrisur, mittendrin, wie die Kinder der Hauslehrerin oder der Köchin vielleicht. Wir gehörten eigentlich nicht dazu – und doch bekamen wir die süßen Kirschen oben von der Sahnetorte.
Der Applaus wollte nicht enden, auch nach Zugabe und Wenzels Gutenachtlied nicht. Wir waren so hin und her gerissen zwischen mehr, mehr! und dem Jubilaren längst ein Fest bis zum Morgenrauschen zu gönnen – und dann fing Gesang an, erst eine Handvoll, dann sang der ganze Saal aus vollem Herzen heraus „Weil heute dein Geburtstag ist“, um ihn noch ein letztes Mal herauszulocken hinter diesem samtig vertrauten Vorhang. Auf einem schöneren 75. Geburtstag war ich noch nie. Das ich zu Christoph Heins 80. eingeladen werde, ist eher unwahrscheinlich. Aber bis dahin mache ich meine Hausaufgaben und lese seine fantastischen Bücher. (Und trage schon mal in meinen Kalender ein, wann Wenzel mal 75 wird.)